Sie haben keine Angst, den Leuten in die Gehörgänge und mit ihrer Musik auch in
die Glieder zu fahren. Sie greifen in den unerschöpflichen Fundus von Jazz, Volks- und Kunstmusik,
ohne sich im geringsten darum zu kümmern, ob ihre Musik von den Linienrichtern des
Kulturbetriebs als stil- und astrein angehört wird. Sie pfeiffen drauf und machen
sich auf den Gang der Geschichte ihre eigenen Melodien. Und sie machen Mut,
spielen für Bürgerinitiativen ebenso wie für Jazzfestivals, in Vollzugsanstalten
mit gleicher Selbstverständlichkeit wie in großen Konzertsälen.
Ob Straße oder Opernhaus - schwarz / rot Atemgold 09 nimmt musikalisch
kein Blatt vor den Mund und weiß mit dem Notenblatt so souverän umzugehen,
daß das Aufgeschriebene im Prozeß des spontanen Musizierens allenfalls
als Anhaltspunkt für die atemberaubenden Höhenflüge dient.
Von überall her kommen die Anregungen: aus den Traditionen der
Big-Bands amerikanischen Zuschnitts mehr noch denen der Blaskapellen
des Ruhrgebiets, aus dem Free Jazz, dem Erbe der New-Orleans-Brassbands,
dem Schunkellied der Kneipe von nebenan, dem Multi-Kulti-Gemisch der Großstädte,
aus Krimi, Sport und Tagesschau. schwarz / rot Atemgold 09 überrascht mit
musikalischen Collagen, ohne in die Trickkiste der Elektronik greifen zu müssen.
Die Band jongliert mit Erfindungen und Fundstücken, spielt zuweilen auch mit
Klischees, aber bricht diese zugleich auf und reflektiert sie kritisch. Im Wechsel
der Tempi und Tonarten prallen Welten aufeinander, ohne sich gegenseitig in die Luft zu jagen.
Die Band beharrt auf der Tugend, nicht an den Ohren der Leute vorbeispielen zu wollen, verwechselt
das aber auch nicht mit der Unsitte des Anbiederns. Die unbändige Lust zu spielen steht dem
Verstand nicht im Wege, sondern verbindet sich mit diesem. Da wird Stimmungsmusik in ihre
Teile zerpflückt und den Zeitgenossen schon mal ein schräger Marsch geblasen. Andererseits
gibt es fast liebevoll zu nennende Reminiszenzen an Musik, die sich mit Zirkus und Kneipen,
Jahrmarkt und Laubenpieperfesten assoziieren lassen. Doch die Musikerinnen und Musiker
dieser Kapelle sind weder Nostalgiker noch auf Neuton versessene Materialfetischisten.
Sie verbinden den Rückgriff immer mit einem Avanti und steigern selbst volksliedhafte
Einfachheit zuweilen zu Arrangements von ausgekochter Raffiniertheit. Dabei ist alles
selbstgemacht, selbst geschrieben und selbst gespielt. Dies nur, falls jemand auf den
Gedanken käme, hier wären ausgeborgte Stars als Solisten am Werke. Die Tuba-Tieftonforschung
paßt ebenso ins Konzept wie die swingenden Saxophoneskapaden oder der sentimentale
Abgesang auf der Trompete.
Vor allem aber: schwarz / rot Atemgold 09 spielt Kollektiv-Musik. Im weitesten Sinne
dem holländischen Willem Breuker Kollektief verwandt, mit dem die Band auch schon
zusammengearbeitet hat, geht es um Drive, Druck und Spielfreude.
Und um Aufbruch. "Emscherstrand", übrigens ein zubetoniertes Bett für die Abwässer des
Ruhrgebietes, steht dafür als ein Bild. Blasmusik - historische Parallelen sind nicht rein
zufällig - bricht Beton.
Bert Noglik