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Klanglandschaft Ruhrgebiet

Das Schall-Archiv von Richard Ortmann

Dr. Uta C. Schmidt

Seit Beginn der 1980er Jahre dokumentiert Richard Ortmann, geboren in Herne, heute in Dortmund wohnend, den Klang des Ruhrgebiets. Die mehr als 350 Stunden Material, die er auf Tonträgern gespeichert hat, machen die gewaltigen Transformationsprozesse, die die Region in den letzten 50 Jahren durchlebt, organisiert, erlitten und vorangetrieben hat, hörbar. „Kann man Strukturwandel hören?“, beantwortet Ortmann mit einem entschiedenen „Ja!“.

Am Anfang der Dokumentationstätigkeit stand eine Schlüsselszene: Für eine Hörspielproduktion der damaligen Ruhrgebietsredaktion des WDR unter der Leitung von Frank Hübner mit dem Tonbandgerät unterwegs, wollte er nach ein paar Monaten eine Aufnahme in einem Betrieb wiederholen, da das Band beschädigt worden war. Mittlerweile existierte der Betrieb nicht mehr, die Maschinen waren verschrottet, die Arbeiter entlassen, die Fabrikgebäude warteten auf den Abriss. Ortmann begann, sich dem Phänomen der Still-legung systematisch zu widmen und nichts mehr dem Zufall zu überlassen. Bevorstehende Werksschließungen klopfte er auf ihre Klangökonomie ab, Wirtschaftsnachrichten wurden ausgewertet. Er begann Industriestandorte gezielt während der Produktion aufzusuchen und ihre Klangqualitäten zu dokumentieren. Laute, die von Auslöschung bedroht sind, zeichnet er seitdem auf. Er behandelte sie als wichtige historische Artefakte.

Dabei interessiert er sich nicht allein technikhistorisch für Geräusche von speziellen Maschinen und ihren Funktionsweisen. Mehr noch sucht er die Menschen in ihrer Verbindung zur technischen Umwelt. Sie beschreiben ihm ihren Arbeitsplatz und das Verhältnis von „Wohlklang“ und „Missklang“ für den Produktionsablauf. Sie nehmen ihn mit in ihre Lebenswelt, wo sie sich mit anderen Klängen umgeben oder die Stille suchen. Einige Gesprächspartner entpuppen sich geradezu als Fachleute des Auditiven, so, wenn sie Fehlfunktionen der Maschinen in nuancierten Änderungen ihres Klangspektrums antizipieren und vor allem für untertage an die überlebensnotwendige Bedeutung des Hörsinns erinnern: Strebepfeiler aus Holz beginnen untertage vor einem bevorstehenden Gesteinseinbruch zu „knarzen“. Das menschliche Ohr ist wachsam, es funktioniert mit seismographischer Feinheit. Arbeiter haben gelernt, Lautverschiebungen im maschinellen Ablauf als Hinweise auf Veränderungen im Produktionsablauf zu interpretieren.

Das Schall-Archiv umfasst Überlieferungen von Pumpen, Hämmern, Sägen, Fräsen, Dampfmaschinen der beginnenden Industrialisierung, von Werften des Duisburger Hafens, Walzstraßen und Blechstanzereien, Kokereien, Hochofenabstichen, Abbauhämmern, Anschlägern, Sprengungen, Schallquellen aus Zechensiedlungen, Boxbuden, Kirchen und Klöstern, Schrebergärten, Pommes-Buden, Trinkhallen, Eckkneipen, vom einzigen Ski-Lift des Ruhrgebiets, von Fußballplätzen, ornithologischen Exkursionen zu brachliegenden Industrieflächen, Autobahnkreuzen, Festen und Feiern, Demonstrationen, Streiks, Männergesangsvereinen, Spielmannszügen, Blaskapellen und gemischten Chören … Die Sammlung wächst weiter. Zur Zeit setzt sich der Dokumentarist Ortmann mit Zukunftstechnologien, Logistikstandorten und Kulturindustrien bis hin zum Klang der renaturierten Industrielandschaft auseinander. Eine grobe Erschließung des Materials würde nach „Arbeitswelt“, „Lebenswelt“, „Maschinen“, „Menschen“ rubrizieren. Die Dimension der Dokumentation liegt in der Verbindung von sozial-, technik- und kulturwissenschaftlichen Interessen an der Klanglandschaft Ruhrgebiet.

Richard Ortmann hat seine Schalldokumentation in die Hände des Essener Ruhrlandmuseums, bald RuhrMuseum genannt, übergeben. Das Museum hat sie angekauft, die Verfügungsrechte über Klänge und Geräusche liegen seitdem dort in Absprache mit Richard Ortmann. Das Ruhrlandmuseum zeigt die geologischen Formationen und Deformierungen der Industrielandschaft Ruhrgebiet genauso wie die klassenspezifischen Sachüberlieferungen seiner sozialräumlichen Verfasstheit. Es verfügt mit seiner Fotosammlung über die größte Dokumentation visueller Repräsentationen des Ruhrgebiets. Dort ist deshalb auch der ideale Ort, sein akustisches Erbe zu tradieren, um zukünftig Aneignungen der regionalen Vergangenheit für die jeweilige Gegenwart auch über die Einbeziehung des Hörsinns zu initiieren.

Vor dem Hintergrund allgemein ausufernder Sammlungsfreude – gesammelt wird mittlerweile nahezu alles von Bierdeckeln, Fußballpokalen, Liebesbriefen, Überraschungseiern über Milchkännchen, Barbiepuppen und Teddybären bis hin zu Barbarafiguren, Modellautos, Handys und Kochrezepten – stellt sich die Frage nach der Relevanz akustischer Überlieferungen. Hermann Lübbe hat in einem Vortrag für die Planungsgruppe des RuhrMuseums zum „Fortschritt von gestern“ die Frage gestellt, warum wir, die wir doch in einer „Wegwerfgesellschaft“ leben, alles behalten wollen, wenn sich ein Hauch von Geschichte über etwas gelegt hat. Er erklärte dieses Bedürfnis nach Vergangenheitsvergegenwärtigung erneut mit der zunehmenden „Gegenwartsschrumpfung“, einem zentralen Begriff seiner Musealisierungstheorie, der das Phänomen beschreibt, dass die Zahl der Jahre, für die wir in allen Bereichen unseres Lebens mit einigermaßen konstanten Lebensverhältnissen rechnen können, stetig abnimmt. Lübbe sieht „Sammeln“ und „Erhalten“ als Wege, die Verlusterfahrungen, die mit der zunehmenden Schrumpfung der Gegenwartserfahrung einhergehen, zu kompensieren und die im Wandlungsprozess entfremdeten Vergangenheiten verständlich zu machen.

Zunächst berührt diese akustische Dokumentation grundsätzliche Fragen nach Überlieferungsformen und nach den Trägern des kulturellen Gedächtnisses. Nach Schrift-Gut, Sach-Quelle, Denk-Mal gibt es nun auch Schall-Überlieferungen. Anders als in zufällig überlieferten Text-, Bild- oder Sachüberresten wird diese erst einmal angefertigt, sie hat den Status einer „Tradition“, um mit alten quellenkundlichen Begriffen zu sprechen. Erst seit der Speichermöglichkeit von Schall durch den Phonographen im Jahre 1877 ist es möglich, Klänge und Geräusche zu „überliefern“. Bis dahin entfalteten sie sich in Raum und Zeit, waren unlösbar an die Mechanismen gebunden, die sie hervorbrachten. Sie blieben einmalig und ephemer. Von Edisons Phonographen bis zum spontanen Einsatz der Aufzeichnungs- und Speichermedien in der Umwelt waren noch viele technische und wirtschaftliche Herausforderungen zu meistern. Ein technisch bedeutsamer Schritt bedeutete das Magnetband und die entsprechende Aufnahme- und -zeichnungs- bzw. Abspieltechnik, die Telefunken 1935 erstmalig auf der Berliner Funkausstellung präsentierte. Von da aus bewegte sich die Entwicklung hin zur Verbesserung der Mikrophone, zur Mobilisierung, Miniaturisierung und höherer Akkuleistung. Der Entwicklung des Tonbandes (in doppelter Bedeutung von Aufzeichnungsgerät und –medium) zum Massenmedium folgte die Verbilligung auch von Profigeräten. Richard Ortmann begann seine Dokumentationstätigkeit mit einer Stereo-Nagra, die sich als Aufnahmegerät für den Filmton in Wüsten und Polarregionen bewährt hatte. Von Anfang an legte er großen Wert auf technisch einwandfreie Dokumentation, da er die Klänge und Geräusche nicht nur für ein abstraktes Archiv, sondern vor allem für seine künstlerische Auseinandersetzung mit dem Klangraum Ruhrgebiet aufzeichnete. Heute speichert er per DAT seine Tonfunde noch immer auf „Band“ und kopiert sie auf CD um. Dieser kurze Exkurs in die Geschichte der Speichertechnik und –medien sollte vor allem auf eines hinweisen: Tondokumente als Quelle sind verglichen mit anderen Überlieferungen jung und müssen sich zunächst im Chor der Überlieferungen eine Stimme verschaffen. In der historisch legitimierten Bedeutung von Quellengattungen müssen sie um einen angemessenen Platz erst noch kämpfen.

Die Etablierung des Schall-Archivs steht für eine Verschiebung in der Ordnung der Repräsentationen. Die tradierte Hierarchie der Quellengattungen folgt der abendländischen Hierarchie der Sinne, die seit Platon „eidetischer“, d. h. ideenhafter Schau, vor allem aber seit der optisch-perspektivierenden Begründung des neuzeitlichen Standpunkts „als Paradigma eines distanzierenden, blickorientierten Wissens“ den Sehsinn privilegiert. Als „Hörmensch“ stellt sich Ortmann gegen die „Okulartyrannis“ (Michael Wetzel) und erinnert an die Bedeutung des Hörsinns in Hoffnung auf eine gleichberechtigte Konzeption menschlich-sinnlichen Vermögens und eine synästhetische Konzeption kultureller Erinnerung. Es gibt für diese Programmatik Klangaufzeichnungen im Schall-Archiv, die bisherige visuelle Quellen um eine Überlieferung in Sinne einer vielschichtigeren Annäherung vergangener Lebensweltenbereichern kann. Die Fotografie dokumentiert Sprengungen per winder in Sekundenschritten in jedem Stadium der Zerstörung. Die akustische Überlieferung liefert zusätzlich zur Sprengung selber den Applaus dazu, angesichts von Stilllegungsängsten und Schrumpfungsszenarien eine verwirrende Information. Zusammen gesehen und gehört kommen wir vielleicht zu einer wirklichkeitsnäheren, differenzierteren Erzählung über Sprengungen.

Richard Ortmann ist ein „Hörmensch“. Seine Sensibilität für Klanglandschaften wurde durch das „World Soundscape Projekt“ intensiviert, das der Komponist Murray Schafer in den späten 1960er / frühen 1970er Jahren in Vancouver initiierte und von dem Ortmann zu Beginn der 1980er Jahre in Dortmund über Radio erfuhr. Murray Schafer reagierte damit auf die zunehmende Lärmverschmutzung Vancouvers, die den gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozess begleitete. Ausgehend von seinem regionalen Umfeld stieß er weltweite Untersuchungen an über Klang-Symbolik, aurale Wahrnehmung und Lärmüberflutung. Er konzipierte das interdisziplinäre Fach „Akustikdesign“, in dem er die einzelnen mit Lautstudien befassten Künste und Wissenschaften zusammenführte, um das Inhumane der Lärmverschmutzung einzudämmen, klangökologische Alternativen aufzuzeigen und Wahrnehmung zu sensibilisieren: „Der Akustikdesigner kann die Gesellschaft dazu motivieren, wieder den Modellen wunderbar modulierter und harmonischer Lautsphären zu lauschen, wie wir sie in großen Musikkompositionen besitzen“. In Murray Schafers Optimismus schwingt zweifellos ein Hauch jener auf Vernunft gründenden Planungshoffnung mit, die den Beginn der 1970er Jahre auszeichneten. Er motivierte über seine schriftlichen wie akustischen Publikationen den Musiker und Hörspielkomponisten Richard Ortmann, sich der Erforschung der ruhrgebietsspezifischen Klangsphäre zu widmen, die sich ähnlich Vancouvers gerade mit einer unglaublichen Dynamik veränderte. Es waren die humanen, sozialen und ästhetischen Absichten des „Akustik-Designs“, die er für das Ruhrgebiet zu aktivieren versuchte: „Wir, die wir die zukünftige Welt entwerfen werden, lauschen voraus mit riesigen Sprüngen der Vorstellungskraft und des Intellekts, lauschen fünfzig, einhundert, eintausend Jahre voraus. Was hören Sie?“ Zur Perspektivierung zukünftiger Lautsphären bedurfte es angesichts einer für Fragen der Klangumwelt unsensiblen Gegenwart zur Hörschärfung erst einmal der Dokumentation von Klängen und Geräuschen. Dies hatte mit Kompensation im Lübbeschen Sinne weniger zu tun als mit einer Sicherung bestehender Klangverhältnisse angesichts bevorstehender sozio-ökonomischer Transformationsprozesse. Im Akt der Sicherung lag gleichzeitig eine aktive Aneignung der gewordenen Gegenwart. Mit der Still-legung der großräumigen montan-industriellen Produktionsstätten verband sich – auch dies konnte Richard Ortmann im Gespräch mit Arbeitern und Arbeiterinnen herausfinden – eine durchaus ambivalente Haltung zwischen Ökonomie und Ökologie – Angst vor Leben ohne Arbeit und Zuversicht angesichts der gewonnenen Lebensqualität ohne Dreck und Industrielärm. Zu Beginn interessierte den Musiker Ortmann die vermeintliche „Stille“, die mit der Still-legung im Verlauf der Deindustrialisierung verbunden war. Er dachte an Stille als einen positiven Zustand, den er für den Strukturwandel als Qualität konstruktiv zu erinnern versuchte. Mittlerweile dokumentiert sich der Wandlungsprozess der Klanglandschaft Ruhrgebiet wesentlich komplexer in einer Veränderung der Lautsphäre hin zu mehr Verkehrslärm. Man kann dies sinnenfällig am Beispiel des Kurparks Unna machen, über den am späten Nachmittag / frühen Abend alle fünf Minuten Flugzeuge im Landeanflug auf den Flughafen Dortmund dröhnen. Der Ort und das Wort „Kurpark“ haben aus den Zeiten des Kurortes Unna überlebt, angesichts der exzentrischen Lautsphäre entsteht zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem eine irritierende Spannung, die uns unerwartet und unverhofft ans Denken bringt.

Ganz im Sinne Murray Schafers unterstützt Richard Ortmann mit seiner Dokumentationstätigkeit auch Initiativen, die sich für eine aktive Gestaltung ihres Klangumfeldes einsetzen wie der Kultur- und Geschichtsverein in Dortmund-Eving. Dieser mischte sich mit einer eigenen Stimme in die Planungen zur baulichen Gestaltung des Geländes der ehemaligen Zeche Minister Stein mit dem Vorschlag ein, der „Neuen Mitte Eving“ kirchturmglockengleich einen Orientierungslaut in Form eines bergmännischen Signals zu stiften. Nur wenn man ein Bewusstsein für Klangsymbolik entwickelt hat, erschließt sich die Bedeutung dieser kulturellen Initiative: Orientierungslaute stiften Gemeinschaft. Nachdem die Zeche als Vergemeinschaftsrahmen verschwunden war, bestanden die ehemaligen Bergleute auf einem neuen gemeinschaftsstiftenden Symbol. Ortmann führte mit einem Vertreter der Initiative – Ulrich Kneisel – ein Interview und er hat mit seinen Aufnahmen von Anschlägern im Produktionsablauf und als Denkmallaut die Evinger Initiative in technik- und kulturwissenschaftliche Diskussionen eingeführt. Auch diese Wissenschaften mussten zuerst ihre Aufmerksamkeit für das Akustische und die Vermögen des Hörsinns schärfen. Medienwissenschaftler an der Universität Potsdam – von ihrem Alter, der sozialen Zusammensetzung der Gruppe, von ihren Erfahrungen weit entfernt von den ehemaligen Bergleuten des Ruhrgebiets – konnten mit der eigensinnigen Setzung des Orientierungslautes nichts anfangen. Die Position lautete: Wir brauchen angesichts heutiger Lärmüberflutung nicht noch zusätzliche, kulturell legitimierte Geräuschbelästigung. Ethnologen und Kulturwissenschaftlerinnen in Hamburg hingegen, von ihren disziplinären Zugängen mit Fragen der Mensch-Umwelt-Beziehungen und symbolischen Ordnungen vertraut, folgten den Erkenntnismöglichkeiten des Akustischen. Das akustische Denkmal in Eving, auf einer Original Signalglocke von Siemens & Halske aus dem Bergbau basierend, stellt in anschaulicher Weise die Frage nach der Bedeutung des Akustischen für individuelle wie kollektive Erinnerung. Wir alle verbinden mit bestimmten Klängen angenehme oder enttäuschende Erfahrungen – z. B. mit einer Musik die Erinnerung an den ersten Kuss; Über das satte Tuckern eines alten DKW-Motorrades kann man sich angenehme Erinnerungen an die Sommerfrische in Jugendzeiten zurückrufen. In Eving wurde eine berufsständische Erfahrung durch die Denkmalsetzung verallgemeinert und in kollektive Erinnerung überführt. Die Kulturwissenschaften haben das Gedächtnis immer wieder in Metaphern des Raumes gefasst – Archiv, Bibliothek, selbst die „Speicher“vorstellung des Computerzeitalters führt auf einen Aufbewahrungsraum zurück. Aktuelle Forschungen aus dem Neurowissenschaften hingegen zeigen, dass es weder einen „Raum“ im Gehirn für das Gedächtnis gibt, noch dass es über Ablage und Aufbewahrung funktioniert. Gedächtnis ist ein aktiver Vorgang, der durch Sinneserfahrungen immer wieder neu stimuliert wird. An diesem Vorgang ist ein weit verzweigtes Zell-Netz von Sinnes- und Überlieferungsorganen beteiligt. Es fällt auf, dass auch diese Konzeption von Gedächtnis als interaktivem Netzwerk nicht ohne Bild auskommen kann. Sie bietet aber für die Frage nach der Bedeutung des Akustischen für Erinnerung den Vorteil, dass sie Sinneseindrücken wie Tönen und Gerüchen in diesem Vernetzungsvorgang eine wesentlich wichtigere Bedeutung für die Gedächtnisbildung zumisst wie zum Beispiel der Wahrnehmung von Texten. Der erinnerungsstärkste Teil unseres bewussten Gedächtnisses ist im Kern mit Gefühlen assoziiert, die durch Sinnesvermögen wie das Hören gesteuert werden: Die akustisch-sensorische Information gelangt über den Hörsinn in das Limbische System, den entwicklungsgeschichtlich ältesten Teil des Gehirns und räumlich gesehen sein innerster. Das Limbische System ist die erste Anlaufstelle für alle empfangenen Sinnesreize. Hier werden die sensorischen Informationen mit Gefühlen verbunden. Umgeben wird es vom „Seepferdchen“ (Hippokampus), das maßgeblich an der Zwischenspeicherung im Kurzzeitgedächtnis beteiligt und für die Verteilung der eintreffenden Information in die Hirnrinde verantwortlich ist. Wenn das Gedächtnis in den Vorstellungen der neueren Neurowissenschaften einen „Assoziationsapparat“ (Lutz Niethammer) darstellt, der durch Gefühle angeregt wird, dann bildet der Hörsinn nicht nur ein zentrales Organ für die Orientierung in der Gegenwart, sondern er vermag auch zurückliegende Erfahrungen zu aktivieren, die Limbisches System und „Seepferdchen“ in die Hirnrinde weitergeleitet haben. Das Gedächtnis ist somit ebenso wie die Aneignung der jeweiligen Gegenwart mit allen Sinnen als ein produktiver Vorgang vorzustellen, ein Arbeitsprozess, der kognitive und affektive als auch sinnlich-dingliche Reize benötigt. Klangüberlieferungen, wie sie Richard Ortmann sammelt, können diesen Prozess für das Individuum anregen. Für die „Extraschicht. Nacht der Industriekultur“ im Jahre 2003 nutzte er seine Schallüberlieferungen aus Kokereien, um zusammen mit einer Lichtinstallation und Feuerwerkern die Kokerei Hansa kurzzeitig wieder als Produktionsort im originalen Dezibelbereich zu imaginieren. Für alle, die die Kokerei nur noch als Industriedenkmal besuchen, erschlossen sich jenseits des Events zum ersten Mal Vorstellungen, unter welchen Lärmbelastungen Arbeit in der Kokerei geleistet wurde. Dies ging weiter als eine Beschreibung, wie sie auf Führungen üblich ist, die Erkenntnis stellte sich über den Hör-, Seh- und durch das Feuerwerk auch über den Geruchssinn synästhetisch ein. Ehemalige Kokereiarbeiter, die es sich nicht nehmen ließen, dem Kultur-Event beizuwohnen, bescheinigten Richard Ortmann präzise Arbeit bei der Rekonstruktion der Geräuschkulisse. Am Bierstand vermittelten sie in der Kommunikation mit denjenigen, die den Ort nur noch als Industrie“denkmal“ kennen, erinnerte Erfahrungen mit der Arbeit. Ihre Ehefrauen erzählten von der Dominanz der Kokerei auch im Lebensumfeld. Hier schienen über die Schallüberlieferungen und ihre Inszenierung Möglichkeiten auf, den Menschen vor der Deindustrialisierung, ihren Arbeits- und Lebens- und Geselligkeitsformen nahe zu kommen.

Gegenwärtig bereitet Richard Ortmann zusammen mit Ralf R. Wassermann vom Medienzentrum der Universität Essen-Duisburg für die „Extraschicht. Nacht der Industriekultur“ 2006 eine Klangbrücke zwischen dem rheinisch-westfälischen und dem oberschlesischen Industrierevier vor, die auf Zollverein, Halle 5 am 17. Juni zu hören sein wird. Ein Industrierevier, das die Deindustrialisierung weitestgehend vollzogen hat, tritt ein in eine Kommunikation mit einer Industrieregion, der sie gerade dämmert und die sich zukunftsweisende Fragen nach ihrem industriekulturellen Erbe stellt. Die Klangbrücke ist ein Spiel mit Zeiten und Orten: das, was hier Vergangenheit ist, ist in Oberschlesien Gegenwart; das, was hier Gegenwart ist, scheint dort als Zukunft auf. Die Sensibilisierung für Klangwelten, wie sie die Dokumentationstätigkeit von Richard Ortmann auch immer sinnenbildend mitverfolgt, unterstützt die Kollegen und Kolleginnen in Oberschlesien dabei, ihr industriekulturelles Erbe auf die Agenda der strukturpolitischen Diskussionen zu setzen.

All diesen Kommunikationsprozessen liegt jedoch das Grundbedürfnis zugrunde, Laute, die von Auslöschung bedroht sind, eine besondere Beachtung zuteil werden zu lassen. Ehe sie verschwinden, zeichnet Richard Ortmann sie auf und archiviert sie: „ […] ein sorgfältig geführtes Archiv von verschwindenden Lauten könnte eines Tages von großem Wert sein.“



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