Projektgruppe: Chachelihöll

chachelihöll

eine Schrottophonie

"Die echte Entdeckungsreise besteht nicht darin, neue Landschaften zu suchen, sondern sie mit neuen Augen zu sehen."

(Marcel Proust)

Die CD - Chachelihöll - ist soeben erschienen! Jetzt bestellen!

Der Schweizer Ernst Wilhelm, der sich selbst einen Schrottographen nennt, hat auf abgelegenen wilden Müllhalden die weggeworfenen Dinge besehen und seine Sicht auf Diapositiven festgehalten. Seine Kunst beschreibt er folgendermaßen:

"Ein alter, ölig verschmierter und verrusster Blechschrank wird aus einer Werkstatt entsorgt. Auf dem Abtransport wird er von verschiedenartigem Mitschrott weiter verunstaltet. Er wird schließlich auf einer Deponie ausgekippt und erleidet zusätzliche Unbill durch Witterungseinflüsse. Hier fällt er nach einiger Zeit dem Schrottographen ins Auge, welcher sich, auf solche Schreckerlebnisse erpicht, mittels Stativ und Zoomobjektiv intensiv einer noch flach gebliebenen Blechseite des Objektes widmet. Das über diese Fläche hinwandernde Zoomauge des Schrottographen blickt in eine einzigartige künstliche, ja künstlerische Welt, die er mit gelegentlichen Knipsbewegungen festhält. Der spätere Betrachter wird die Bilder in keiner Weise mehr mit einem Blechschrank assoziieren, sondern er sieht sich reproduzierten Erzeugnissen moderner Kunst gegenüber. Hinter jedem Kunstwerk steht der Mensch als Künstler. Schrottographien sind kunstähnliche Werke, hinter denen als Künstler Schrottkräfte stehen, da ja die Funktion des Schrottographen nicht eigentlich eine künstlerische ist, sondern eher die eines Pilzsammlers oder eines skurrilen Forschungsreisenden. Als der Schrank im Zuge einer Sanierung die Werkstatt verließ, war er bereits beachtenswert. Bei der Müllabfuhr wurde er nun in einem kurzzeitigen und intensiven Prozess weiter gestaltet. Er geriet in eine einzigartige, nie und unter keinen Umständen nachvollziehbare Nachbarschaft mit anderem Schrott. Das Ganze wurde beim Laden, beim Transport und beim Entladen auf ebenso einmalige Art gegeneinandergeschoben, -geworfen, -gewälzt, -gedrückt, -gerammt, -gequetscht, -geschmissen, -gerüttelt und -geschüttelt und bei der Lagerung den unterschiedlichsten Witterungseinflüssen ausgesetzt. Dabei wurde die Patina auf verschiedenste Weise und in verschiedenster Stärke geschrammt, gelocht, geritzt, zerkratzt, punziert, graviert, verschmiert, verwischt und laviert. Aus einem ehedem beliebigen Gebrauchsobjekt von ausschließlich funktionellem Wert wurde ein einmaliger, unverwechselbarer Gegenstand, der, im Detail betrachtet, uns Bilder zeigt, hinter denen ein eindeutiger Formwille zu stecken scheint und die uns auf gleiche Weise ansprechen, wie menschliche Kunst das tut. Eine Tatsache, über die gerätselt, gestaunt und gelacht werden darf."

 
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Die Schrottographonie stellt Ernst Wilhelms Bilder in einen neuen Zusammenhang.

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Die Musik gibt dem abgebildeten Stillstand eine zeitliche Dimension, haucht scheinbar toten Gegenständen neues Leben ein.

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Kompositionen deuten naheliegende Assoziationen zu kleinen Geschichten.

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Improvisationen kommentieren abstrakte Bilder jenseits von Semantik.

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Musique concrète, minimal music und Trivialmusik spiegeln formale Bildstrukturen.

Fünf Musiker, ein jeder von ihnen auf individuelle Weise von den Bildern Ernst Wilhelms fasziniert. Sie entwerfen die Dramaturgie des Konzerts.

Die Schrottophoniker:

Matthias Wilhelm Tuba, Kontrabaß
Johannes Brackmann Posaune, Querflöte, Kontrabaß
Michael Bereckis Saxophone, Klarinetten, Akkordeon
Guido Schlösser Elektronische Klangerzeugung
Richard Ortmann Schrottophon, Tonbänder

Schrottograph:

Ernst Wilhelm Schöftland, Schweiz

Projektion:

Jörg Briese Oberhausen

Biografien:

Michael Bereckis/Dortmund (Saxophone, Klarinette, Akkordeon)

Jahrgang 1960
15 Jahre Akkordeonorchester (Akkordeon)
10 Jahre Bigband als Saxophonist der Uni-Big-Band PH: Blechreiz
5 Jahre Symphonisches Blasorchester (Klarinette)
Diverse Rock- und Jazzbands, zahlreiche Workshop-Projekte
Chachelihöll und Vorgeschichten

Johannes Brackmann/Bottrop (Posaune)

Jahrgang 1994
Seit 1970 E-Bass und später Kontrabass, Tenorposaunist seit 1992. Bassist in zahlreichen Rock- und Funkbands, Kontrabass in verschiedenen lmprovisationsorchestern und Jazzbands (u.a. mit Eckhard Koltermann, Dietmar Hippler, Hans J. Kanty‘), WDR-Produktion mit der New-Jazz-Gruppe Fortune News. Seit 1993 Posaunist in der Street- Marching- und Performanceband Schwarz-RotAtemgold 09 mit Auslandsgastspielen in Russland, England, Holland und Frankreich. Duo- und Trioprojekte mit Matthias Dornhege (Tuba) und Ralf Bazzanella (sax), Klang-Performances mit dem Bilder/Musik-Projekt Chachelihöll. Seit 2000 Mitglied des Quintetts Deep shade of blue um den Dortmunder Schlagzeuger Michael Peters. Workshops und Projekte bei Ray Anderson, Ansgar Striepens, Frank Köllges, Peter Brötzmann. Gründungsmitglied der Jazz-Offensive Essen (J.O.E.), einem lokalen Zusammenschluß aktiver (Jazz)Musiker in Essen, Mitglied im Kulturbeirat der Stadt Essen. Beruflich Geschäftsführer des Kulturzentrums GREND in Essen sowie Kulturberater in der Firma Kulturpraxis (Essen/Bochum)

Guido Schlösser/Gelsenkirchen (Elektronik, Keyboard)

Jahrgang 1966
Mit neun Jahren Klavierunterreicht, mit achtzehn erste musikalische Banderfahrungen: Psychedelic Rock mit Stoned Airlines, daneben auch Tanz- und Unterhaltungsmusik. Von 1988 bis 2000 Komponist, Arrangeur und Pianist der Dortmunder Universitätsbigband Blechreiz. 1993 Gründung des Jazz-Quintett Ramistrata. mit der Saxophonistin Gilda Razani und dem Posaunisten Christoph Damm. Seit 1996 Mitglied der Projektgruppe Chachelihöll. 1997 Aufführung eigene zwölftöniger Kammermusik. Darüber hinaus Betätigung als Theatermusiker, u.a. beim kabarettistischen Karneval Geierabend in Dortmund und bei der literarischen Performance Brecht Brecht/Weill, die im November 1998 in Dortmund uraufgeführt und im April 2000 im Rahmen der Reihe Forum Poesie in WDR 3 gesendet wurde. 1987 bis 1991 Studium der Journalistik in Dortmund. Seit 1992 Hörfunkmoderator. Regelmäßige Produktion von Radiosendungen für die Dortmunder Jazzinitiative ProJazz im Bürgerfunk des Dortmunder Lokalsenders Radio 91,2. Co-Autor des 1998 erschienenen Buches "Ruhrgebiet zwischen Sekt und Selters - Der Kneipenführer (ars vivendi Verlag).
2000 Projektarbeit mit Schülern zusammen mit der Musiklehrerin Margarete Bastian und dem Schrottophonisten Richard Ortmann an einem Gymnasium in Dortmund-Dorstfeld. Das erste Projekt "Wir haben was auf der Pfanne — wir erfinden eine Schrottophonie erhielt 2001 den ersten Preis im bundesweiten Wettbewerb Teamwork - Neue Musik erfinden, des Verbandes Deutscher Schulmusiker. Aufführung beim Internationalen Jazzfestival europhonics in Dortmund. Das zweite Projekt "Gummitwist und Lebertran _ ein Gesamtkunstwerk aus Texten, Fotos und Schrottophonien über Kindheit im Ruhrgebiet der 50er und 60er Jahre befindet sich kurz vor der Uraufführung.

Richard Ortmann/Herne (Schlagwerk/Schrottophon, Tonbänder, Geräusche, Saxophon)

Jahrgang 1955
abgeschlossene Berufsausbildung als Industriekaufmann.
Lebt und arbeitet im Kulturhaus NeuAsseln, Dortmund.
Seit 1965 Schlagzeuger,
Seit 1970 Saxophonist,
Seit 1975 Komponist
seit 1985 Arbeit für Radio Bereiche Hörspiel, Feature - als Autor, Regisseur und Komponist

Schallarchiv "Harry Krachkowski"
seit 1980 Sammlung von O-Tönen, Geräuschen, Klängen und Stimmen der Region auf Tonband; Anlage eines umfangreichen Akustik-Archivs zur klanglichen Dokumentation des Ruhrgbietes im Kooperationsauftrag des Ruhrland-Museum Essen.

Ich...

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hörte Warm- und Kaltwalzwerke der Stahlschmieden und war in der Blechstanzerei von Opel,

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bin über Zechengelände gegangen, bin auf Fördertürme gestiegen und 600 m Untertage eingefahren,

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habe mit Menschen in ihren Zechensiedlungen gesprochen, hörte die Dialekte zwischen Duisburg und Dortmund,

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war zu Gast bei Männergesangsvereinen, Spielmannszügen, Blaskapellen, gemischten Chören und auch bei Günter, dem Bandoneonspieler,

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habe Pumpen, Hämmer, Dampfmaschinen, Mahlwerke der beginnenden Industrialisierung aufgenommen, die wir heute nur noch im westfälischen Industriemuseum Hagen finden,

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war in den Werften des Duisburger Hafen,

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besuchte die Kirchen und Klöster des Ruhrgebiets,

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bin mit dem Mikrofon aufm Taubenschlag gewesen,

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habe Pause gemacht in Schrebergärten, an Trinkhallen und in Eckkneipen,

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war auf stillgelegten Hochöfen und in leeren Fabrikhallen,

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habe ornithologische Exkursionen auf brachliegendem Industriegelände unternommen,

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hörte Dampfloks und Autobahnkreuze, wurde zu Festen und Feiern eingeladen,

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bin mit Bus und Bahn quer durchs Revier gefahren.

Zahlreiche Auftragsarbeiten zu Klangskulpturen und Tonarbeiten, u.a. für Ruhrlandmuseum Essen, DASA Dortmund, Museum Zeche Zollern II Dortmund.

"Einmal Herne und zurück"

Klanglandschaft RUHRGEBIET, 45 min, WDR 1995, DLR Berlin 1996,
WDR 1998, DLR Köln 2000, WDR 2000. Wurde ausgezeichnet innerhalb des 3. Wettbewerbs zur Geschichte im Ruhrgebiet, ausgeschrieben vom "Forum Geschichtskultur an Ruhr und Emscher", zum Thema "Das Ruhrgebiet von 1945 bis morgen". 1999, die gleichnamige CD ist da, in Zusammenarbeit mit dem WDR. 1999, CD "river run", 30 Jahre akustische Kunst im WDR, Hrsgb. Klaus Schöning.
Bestandteil der Bibliothek in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn. Stichwort: Hörstücke.
http://www.kah-bonn.de/index.htm?bibliothek/akustik.htm

Gründungsmitglied (1982) und Leiter der Blaskapelle und marching-band: schwarz/rot ATEMGOLD 09, feiert mit ihr bis heute ungewöhnliche Erfolge auf den Straßen, Plätzen und Bühnen dieser Welt; LP "schwarz/rot" 1985, CD "Am Emscherstrand", 1993, CD "STANDARD", 1999

Mitbegründer zahlreicher Bands und Projekte (Bazar Bizarre, Die Edelsteine), Organisator diverser Veranstaltungen und Projekte (Blech gegen Blöd, Blasmusikfestival Volle Kanne, u.v.m.), seit 1997 "CHACHELIHöLL" - eine Schrottophonie, Zeitgleich: Entwicklung des Schrottophons, ein Instrumentarium aus weggeworfenen, auf Dachböden und in Kellern, auf Schrottplätzen und auf dem Sperrmüll gefundenen Alltagsgegenständen.
Projekte für den Pavillon des Deutschen Gewerkschaftsbundes beim Weltjugendtreffen in Jamaica, 1992 und EXPO Hannover 2000.

Weitere Infos unter: www.richard-ortmann.de

Matthias Wilhelm/ Safenwil, Schweiz (Tuba, Kontrabass, Stimme)

Jahrgang 1957
1972 erste Agrar-Jazzband, 1976-1981 Kontrabass- und Tubastudium an der Berufsschule des Konservatoriums in Zürich. Mitglied zahlreicher Jazzformationen ( u.a. mit Markus Eichenberger und Jaques Widmer, ARTRA mit Leroy Jones), ständige Zusammenarbeit mit Erich Fischer. 1982-1985 Studium an der Hochschule für Künste in Berlin, regelmäßige Tätigkeit im Symphonischen Orchester Berlin sowie als Kammermusiker. Seit 1985 bis heute, Orchestertubist mit Verpflichtung zum Kontrabass im Orchester des Landestheater Detmold. Vielfältige Aktivitäten als Musiker in unterschiedlichen Formationen: The Returnal Quartett: Tourneen in Schweden, Dänemark, Deutschland, Schweiz; Blue Moon Quartett: Hausband des Residenz-Hotels Detmold, Begleitung internationaler Künstler;CD-Veröffentlichungen, Stummfilm-Live-Musik, Georg Rox Quartett, Hadlef Schinke Trio, Blechjazz&Co, Barbara Buchholz Bassbeben, Projecto Brasiliero, Daniel Wahren Trio, Willi Budde Bigband, Musiktheater und Multimediaprojekte mit der Gruppe CHAIROS, Chachelihöll, Consortium Cannibalis (1. Preisträger Kompositionswettbewerb 1998)

Jörg Briese/ Oberhausen (Fotograf, Diakünstler)

Jahrgang 1965
Kommunikationsdesignstudium in Essen, freiberuflicher Fotojournalist. Seit 1988 tätig am Lernort-STUDIO der Sophie-Scholl-Kollegschule in Duisburg Marxloh. Er veranstaltete in den letzten zehn Jahren Medienworkshops im Internationalen Jugend- und Kulturzentrum Kiebitz in Duisburg, für die Jugendämter in Bottop, Duisburg und Oberhausen, für die RAA in Mülheim an der Ruhr, in der Städtischen Galerie Schloss Oberhausen, im Lehmbruck Museum in Duisburg und im Ruhrland Museum in Essen und für andere Bildungs-und Kultureinrichtungen und entwickelt sozial-dokumentarische Formen der Fotografie in der Jugendhilfeplanung. In den letzten drei Jahren wurden Strategien zur übergreifenden Workshoparbeit mit Trägern der Jugendarbeit und der Wirtschaft entwickelt und durchgeführt so z.B. mit dem Werk Ruhrchemie- der Gemeinschaftsmüllverbrennungsanlage, mit der Energieversorgung in Oberhausen des weiteren mit dem Chemieunternehmen Grillo-Werke in Duisburg. Der Workshop Bilderzauber in Zusammenarbeit mit dem Jugendamt Oberhausen gewann 1996 den Deutschen Jugendfotopreis. 1998 Ankauf von Camera obscura Fotos aus dem Zyklus "Die unsichtbare Realität des Bekannten durch das Deutschen Technikmuseum Berlin. Seid 1998 Arbeit am Musik und Projektions-Projekt Chachelihöll mit Gastspielen in der Region sowie in Detmold und Hamburg.1999 Durchführung des Kalenderprojektes Mitte und Lirich aus Sicht der Camera Obscura" in Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung Oberhausen. 2000 Gewinn des Hauptpreises des Wettbewerbs Gesicht und Gestalt des Ruhrgebiets durchgeführt vom Forum Geschichtskultur, mit der Diashow Ofen fünf spuckt Stahl. 2001 Multimediaprojekt Unter Geiern in Zusammenarbeit mit der Geschichtswerkstatt Oberhausen e.V. und der GmbH und Chor KG. Ausstellungen eigener Fotoarbeiten in Essen, Oberhausen, Duisburg und Antwerpen.

Gastspiele und Projekte "Chachelihöll"

1996  
Zeche Fritz/Essen: Performance: "Man muß sich beeilen, wenn man noch etwas sehen - hören - will" (Paul Cezanne)
1997
Premiere im Maschinenhaus Zeche Carl-Gelände, Essen,
1997
Zeche Lothringen, Bochum,
1997
Museum für Kunst- und Kulturgeschichte, Dortmund,
1997
Cafe Käthe, Oberhausen,
1998
J.O.E. Festival JazzOffensive, Essen
1999
EUROPHONICS, Jazzfestival Dortmund,
1999
Ausstellungseröffnung ‚Sonne, Mond und Sterne’; Kokerei Zollverein, Essen,
2000
JazzHaus-Festival in Hamburg,
2000
CD-Präsentation im Maschinenhaus der Zeche Carl, Essen,
2000
DASA, Deutsche Arbeitsschutzausstellung, Dortmund,
2000
Teilnahme an der Konzert-Reihe "Swingbeats 2000/ JazzPodiumRuhr" und der 1.Deutsche Jazzwoche",

5. Oktober 2001 Fr. 20:05 WDR 5
6. Oktober 2001 Sa. 10:05 WDR 5
 

"Blaschek"

Spielart Krimi von Joachim Castella
Regie: Frank Hübner
Produktion: WDR 2001/ca. 54
Musik: Klangcollage "Chachelihöll" von Richard Ortmann

5. Mai - 23. Juni 2001
 
Ausstellungseröffnung: Rust never sleeps: Industriefotografien aus dem Revier
im GREND-Kulturzentrum, Essen
Fotografien von Burkhard Heringhaus
CD-Einspielungen: "Chachelihöll - eine Schrottophonie".

Chachelihöll ist vertreten auf den Jazz CD-Samplern
- "Pro Jazz" Dortmund Sampler Vol.2
- "Swingbeats", JazzPodiumRuhr Sampler 2000

Chachelihöll - eine Schrottophonie

Von Robert Bosshard (Oberhausen)

Seit dem Dreissigjährigen Krieg, als der französische Militärbegriff ‚Avantgarde’ sich in der deutschen Sprache einzunisten vermochte, verwirrt dieser wie ein Bazillus den deutschen Geist, indem er die künstlerische Vorhut mit der kriegerischen vereint. ‚Chachelihöllen’ resultieren daraus, zerdepperte Milchkaffeekeramiktassenscherbenhaufen beispielsweise in Form einer ästhetisch aufgepeppt ausgestellten Edelkonsumschrottdeponie. Jener welsche Begriff infiziert also in bedrohlichem Ausmass unsere friedfertig allemannisch-germanische Welt, indem er das unberechenbare Paradoxon provoziert, dass wer nicht im stehenden Heer der konventionellen Artisten verkehrt, sondern voran zu gehen meint, als Avantgardist damit gleichzeitig dem patriotisch uniformierten Marsch seine verletzlich nackte Kehle hinhält. So zerbrechen der schuldigen Gegenwartsmusik in der ‚Chachelihölle’ die ausgewogen wohlerzogen abgestimmten Herrschaftsinstrumente Trompeten wie Pauken unter der Hand. Das Althergebrachte aus dem Orchestergraben verweigert ihr, wohltemperierte Töne anzugeben. Neue elektronisch-akustische Ver- und Entzerrmaschinen schreddern statt dessen vor aller Augen ganze hörverwohnte Symphonien zu kleinkarrierten Dysharmonien. Erstaunlich nur, dass daraus ein Granulat aus Farbsplittern und Tonfetzen, Baustoff fürs Recycling innovativer Kompositionen entsteht, Ausgangsmaterial für zauberhaft überraschende Tongebilde und Fragmente neuartiger symphonischer Dichtung, die zwar als Konzeption an der Tradition der Programmmusik anknüpft, sie aber mittels improvisatorischer Techniken subjektiviert.

Die Bassorientierung der Tuba und Kontrabassisten (Matthias Wilhelm im vorliegenden Fall) unterstreicht unbewusst eine starke primäre Bindung an die vom Überich geprägte Welt, eben an die tiefe Vaterstimme, und sei es im antiautoritären Sinn. Faszinierend, wie Wilhelm’s in den Raum gepressten Tonvibrationen und die daraus resultierend wild flatternden akustischen Stosswellen die ‘Stills’ der in die Musik an die Wand projizierten Dia-Schau aufnehmen, umhüllen und dem akustischen Raum übergeben, zum mitnehmen für jedermann, Mitspieler und Publikum. Es sind malerische Bilder, aufgenommen von Vater Wilhelm, dem Fotografen, von der wilden Deponie hinter dem Dorf am Graben, wo der Bach noch fliesst und immer auch ein Schwelbrand glimmt, in der Chachelihöll halt, dem idyllischen Ort des zu Material gewordenen Kantönligeists der kleingebliebenen Schweiz.

Wer Hörgewohnheiten zerbricht, provoziert, wie jeder Hund weiss, Angst und Gekläff, wirkt als Klangerfinder hochgerüstet mit destabilisierendem Instrumentarium zu subversiven Zwecken, vulgär-formalistisch anstatt musikalisch-experimentell, und sei’s auch nur, weil’s entweder aus dem schweizer Hochdeutsch (im Gegensatz zum niederrheinischen Plattdeutsch) oder umgekehrt kommt. Richard Ortmann kontrapunktiert bravourös jene in der obigen Hölle dominierenden etwas peinlich kleinbäuerlichen Obertonmelodien mit den altlastverseucht brummeligen Montanindustriekonserven aus den unteren Etagen, sodass auf erschütternde Weise grösste Höhen mit tiefsten Niederungen sich verbinden. Er lässt Kanalarbeitergewerkschafts-funktionäre palavernd mitmusizieren und haut auf die Pauken und lässt damit vorübergehend das Konzertforum sich in eine virtuelle Maschinenhalle transformieren, lässt gleichzeitig aber auch Kuhherden läuten, als würde man mitweiden. Man muss sich nur wundern, wie viel Kraft in ihm steckt, dass ihm gelingt, den in diesem Milieu insistent völkisch-ergreifenden Dreiviertel immer wieder zugunsten einer grösseren Komplexität niederzuringen.

So macht also diese Musik zwei paradox vergleichbare europäische Regionen konkret: die urtümliche Schweiz mit ihren knapp sechs Millionen und das Ruhrgebiet der Gründerzeit mit ähnlich vielen Personen. Die eine definiert sich seit sechshundert Jahren primär über Abgrenzungen, was den quasi paranoiden Charakterpatriotismus der Deutschschweizer, der Kot und Schrott und Geld ästhetisch verklärt, erklärt; die andere unterwirft sich fassungslos allen Moden, immer in der Hoffnung, dass sie aktuell davon was abkriegt, was die Eingeborenenschaft latent lethargisch-gewerkschaftlich deformiert.

Da ist Johannes Brackmann der richtige, um mit Hinterhofgeräuschekunst und sinnlich übersteigerten Trombonfischriffs die schnarchenden Industrietrümmerriesen aus dem apokalyptischen Trauma zu erlösen und die schmelzenden Gletscher aus ihren touristischen Träumen zu holen, sie im Wachzustand wiederzubeleben für eine Zukunft jenseits schluchzender Depressionen und fluchender Sponsoren. Es mag neuromantisch klingen, doch die Nachtigall singt andersrum im Geröll des Alpentals als am ausgerollten Rasen des Rentnerparks zur Gesundheitspflege. Jede Emanzipation von Geworfenheit meint ein Anderssein auf andere Art. So verbindet sich spannungsvoll die Ästhetik des in die sekundäre Natürlichkeit verwachsenden Konsumüberschusses der stinkreichen Alpenregion (deren dünnhäutig-buntfarbenes Image zu implodieren droht am Unterdruck durch Sinnverlust) mit der schnöden, ökogetrimmten makabren Schönheit der Ruhrlandschaft (deren fadenscheinig zu Kulturdenkmälern umdefinierten entleerten Industriekollosse vor Bedeutungsüberdruck zu platzen drohen) im Medium Musik.

Und diese Synthese ruhrschweizerisch dekonstruierter symphonischer Dichtung umspielen lachend, freundlich, sympathisch wie Senn und Kumpel, als kämen sie grad von den Bergen herunter respektive von Untertage herauf, Michael Bereckis ( Akkordeon und Klarinetten) und Guido Schlösser (elektronische Klangwerkzeuge in Eigenbau). Musikalisch permanent im Kampf gegen reaktionäre Gefühlsduselei. Im zähen Ringen um das, was man im Bereich der Akustik Facharbeit nennt. Es ist weder ein Totentanz zum Alpabtrieb in der sterbenden Natur, was wir hören, noch ein Morgenstreich zur Verklärung des Albtraums vom Ende einer industriellen Epoche.

Vielmehr ist Chachelihöll ein gutes Stück illustrierter Gegenwartsmusik.

Oberhausen, 26.3. 2001

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